Donnerstag, 8. Dezember 2005

Auf Franz Hohlers Fluchtroute

52 Wanderungen hat der Schriftsteller Franz Hohler in dem Jahr unternommen, das seinem 60. Geburtstag folgte. Und wie bei einem Wortkünstler kaum anders möglich, ist daraus ein Buch geworden. Der Klappentext bezeichnet diese Wanderungen als "wöchentliche Fluchten aus dem Alltag".

Ausgehend von seinem Wohnort Oerlikon (das von den Lektoren in München regelmässig zur Schreibweise „Örlikon“ vergewaltigt wurde) nahm der Autor am 25. Oktober 2003 den Weg zur Landesgrenze unter die Füsse. Anlass war der "Wahlsieg unserer Rechtspartei" am Sonntag davor, welcher ihn zur Frage veranlasste: "Wie lange würde ich zu Fuß bis zur nächsten Grenze brauchen, wenn ich mein Land verlassen müßte?"

Hat Hohler in seinem Manuskript wirklich "ß" und "Örlikon" geschrieben? Wenn nein, dann muss die Frage erlaubt sein (auch auf die Gefahr hin, dass die Hohler-Fans mir das übelnehmen): Warum akzeptiert ein Schweizer Autor, dass ein deutscher Verlag ihm "ß" und "Örlikon" in seinen Text hineinkorrigiert? Immerhin sind diese Schreibweisen nach Duden nicht falsch, sondern als Schweizer Varietät ausdrücklich zugelassen.

Eilmarsch Oerlikon-Kaiserstuhl

Zurück zu Hohlers Frage. Er beantwortet sie, indem er die Strecke von Oerlikon nach Kaiserstuhl zu Fuss in 4 Stunden 45 Minuten zurücklegt. Und nicht etwa in der Direttissima, sondern über die Waldhöhen hinweg. Eine gute Leistung. Im normalen Marschtempo kaum zu schaffen. Hohler gibt denn auch zu: "Ab dann beginne ich wieder zu rennen, als könne ich keine Stunde länger im Land bleiben." Da war es 11.05 Uhr und Hohler gerade im Wald zwischen Neerach und Stadel. Er marschierte offenbar auf der Höhenroute. Denn weiter schreibt er zu seiner Annäherung an Weiach:

"Als ich zum Wald herauskomme, bin ich im schönsten Wiesengrunde. Ein abgeschiedenes Waldtälchen, allerdings fast senkrecht unter der Anflugschneise des Stadler Bergs, in den vor etwa zehn Jahren eine Alitalia-Maschine donnerte, weil sich die Piloten nicht einig waren, welcher der beiden Höhenmesser klemmte. Der Pilot setzte sich durch, recht hatte der Co-Pilot."

Dieser Schilderung kann man entnehmen, dass Hohler das Gemeindegebiet von Weiach offenbar über den Berg erreichte und dann das Maastälchen hinunter wanderte, wo einst die Weiacher Badi stand. Der von ihm erwähnte Flugzeugabsturz ereignete sich am 14. November 1990. Und auch in diesem kurzen Abschnitt fällt wieder die deutsche Schreibweise auf: „Stadler Berg“ statt wie bei uns üblich „Stadlerberg“.

Der Sägeweiher erhält literarische Weihen

Dann gelangt Hohler kurz nach Mittag zum Weiher der alten Sägerei der Familie Schär (Liegenschaft Zur Säge; das Wohnhaus von 1865 und das Sägegebäude mit Waschhausanbau von 1895):

"12.10 h - Vor dem äußersten Haus von Weiach ist ein Enten- und Gänseweiher. Die Gänse schnattern, als ob sie das Capitol von Rom retten müßten, und kommen sofort über den Teich auf mich zugeschwommen. Ich verfüttere ihnen das Brot, das mir bei der ersten Rast zu Boden gefallen ist."

Dieses Geschnatter ist tatsächlich typisch für den Sägeweiher. Und Hohler tut hier etwas, was viele der Vorbeikommenden mit einem Spaziergang ins Maastälchen verbinden: Gänse und Enten mit Brotresten füttern.

Danach wandert er wohl relativ gemütlich der Bachserstrasse entlang und durch die Chälen bis zur Post. Der Dorfkern von Weiach ist ihm offenbar überhaupt nicht aufgefallen und hat auch keine Assoziationen geweckt. Bei der Sternenkrezung überquerte er dann die Hauptstrasse und gelangte wohl dem Dorfbach entlang bis zum Rhein. Diese Route ist zwar nicht die einzige, aber doch die naheliegendste um ans Rheinufer zu gelangen.

"12.25 h - Ich stehe am Rhein und sehe bereits die Brücke von Kaiserstuhl. Flußabwärts komme ich an Bunkern vorbei, die aus der Zeit stammen, in welcher unser Ufer das Fluchtziel war. Sie stehen wie uralte Schloßruinen da, von Efeu überwachsen, von Bäumen umstellt."

Diese Passage bestätigt die oben geäusserte Vermutung. Da von mehreren Bunkern die Rede ist, muss Hohler dem Dorfbach entlang gewandert und bei dessen Mündung ans Rheinufer gelangt sein, denn dort befindet sich ein Bunker, ein zweiter flussabwärts beim Rheinhof. Danach sieht man bis Kaiserstuhl keine Bunker mehr.

Und schon hat der die Flucht Probende das Gemeindegebiet von Weiach wieder hinter sich gelassen:

"12.45h - Ich überschreite die Brücke von Kaiserstuhl, halte für einen uninteressierten deutschen Zollbeamten auf der anderen Straßenseite meine Identitätskarte in die Höhe und verlasse die Schweiz."

Genau besehen hat Hohler die Schweiz bereits verlassen, als er die Kopie der Nepomukstatue in der Mitte der Brücke passierte. Denn das gemeinsame Zollhaus liegt auf dem Nord-Ufer. Dort aber hat Deutschland längst begonnen.

Quellen
  • Hohler, F.: 52 Wanderungen, Luchterhand, 2. Auflage, München 2005 – S. 154-155.
  • Brunner, K.: Poetisch und ehrgeizig. Bülach: Lesung mit Franz Hohler im Guss 81-80. In: Zürcher Unterländer, 1. Oktober 2005.
  • Schaer, F.: Auf der Flucht vor der grössten Schweizer Partei. Franz Hohler war mit seinen «52 Wanderungen» zu Gast im Guss 81-80. In: Neues Bülacher Tagblatt, 1. Oktober 2005.
  • Zrinski, S.: Die Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Weiach / Die Sägerei der Familie Schär wird nicht unter Denkmalschutz gestellt. In: Zürcher Unterländer, 11. Mai 2002 – S. 7.

1 Kommentar:

Wiachiana-Verlag hat gesagt…

Das eigentliche Sägegebäude existiert nicht mehr. Die NZZ hat mich daran erinnert, dass der von 1895 stammende Bau schon vor Franz Hohlers Wanderung eingestürzt ist: