Samstag, 6. Januar 2007

Kinder statt Rinder

Das Wortspiel soll eine Anspielung auf ein lokales Langzeitproblem sein. Nicht eine politische Aussage im Sinne des berühmt gewordenen Wahlkampfslogans «Kinder statt Inder» der deutschen Republikaner (vgl. den Wikipedia-Artikel über den CDU-Politiker Jürgen Rüttgers).

Angesichts der sinkenden Tendenz bei den Schülerzahlen ist es wahrscheinlich, dass die ehemals kinderreiche Bauerngemeinde Weiach sich vorbehaltlos zum Credo «Mehr Kinder wären gut» (einem Titel in der Unterland-Ausgabe des Tages-Anzeigers von Ende November) bekennen würde. Und das auch in einer breiter angelegten Umfrage (vgl. die vier Statements weiter unten).

Schlusslicht im Tagi-Rating über den Bezirk Dielsdorf

Anlass für den Besuch des Tagi in Weiach und die erwähnte Schlagzeile war das alle vier Jahre erneuerte Regionenrating aus dem Hause Tamedia. Dort bekam Weiach erneut die rote Laterne des Bezirks Dielsdorf verpasst: Note 1. Ein vernichtendes Urteil, das als Verdikt des Immobilienmarktes hingestellt wird:

«In der Gesamtnote des Regionenratings spiegelt sich der Wert der Lagen in der jeweiligen Gemeinde im Vergleich zu den anderen bewerteten Gemeinden wieder. Der Gesamtwert der Lage ergibt sich in der Analyse nicht aus einer Reihe von Expertenmeinungen, sondern er stammt unmittelbar und ausschliesslich aus der Analyse der Markttransaktionen. Sie entsprechen deshalb der aktuellen Wertschätzung aller Teilnehmer am Zürcher Immobilienmarkt.»

(Lead des Artikels TA-Immogesamtnote im Tages-Anzeiger vom 12.04.2005. Erstaunlich, dass ein Tagi-Journalist die Falschschreibung «wiederspiegeln» statt korrekt «widerspiegeln» verwendet. Noch erstaunlicher, dass dies beim Korrekturlesen durchging. Da wurde am Korrektorat wohl etwas gar zuviel gespart.)

Weiacher haben wenig «Pfupf»

Doch zurück zum Beitrag «Mehr Kinder wären gut» vom 28. November. Er steht als Kasten neben dem Hauptartikel mit dem Titel «Auch in Weiach kann man glücklich sein».

Zu Wort kamen in diesem Kasten vier Personen, von denen mindestens zwei den in der Öffentlichkeit Aktiven zugerechnet werden können (Kissling und d'Overschie).

Wie immer bei Zeitungs-O-Ton muss man Zitate mit etlicher Vorsicht geniessen. Dass die Zitate von den Zitierten gegengelesen wurden, erachte ich in diesem Fall als unwahrscheinlich.

Den Anfang macht der seit Jahren mit Herzblut in der Pfadi-Jugendarbeit engagierte Kissling (unter Pfadern als «Gufae» bekannt):

«Frank Kissling (36): Ich habe früher in Neerach gewohnt, doch weil ich als Leiter die Pfadi in Weiach aufgebaut habe, bin ich hierher gezogen. Die Weiacher sind etwas träge, haben wenig «Pfupf», nehmen nicht am Dorfleben teil. Die Neeracher sind da ganz anders. Doch ich lebe trotzdem sehr gern in Weiach. Es ist ländlich, überschaubar, man kennt sich. Ich habe kein Auto und bin auf den öffentlichen Verkehr angewiesen. Jeden Tag fahre ich zur Arbeit nach Zürich. Der Halbstundentakt am Morgen und am Abend ist ausreichend für mich. Tagsüber gibt es immerhin jede Stunde eine Verbindung. Mehr als der Fluglärm stören mich die vielen Autos, die durchs Dorf rasen. Und leider gibt es hier wenige Kinder. Doch das wird sich hoffentlich ändern.»

Das sind harte Worte von einem, dem man eine direkte Vergleichsmöglichkeit zubilligen muss. Der WeiachBlogger nimmt sich bei dieser Kritik durchaus nicht aus. Seine Teilnahme am Dorfleben beschränkt sich nämlich weitgehend auf die passive Beobachterrolle.

Dass sich Kissling an den Autos stört, hängt wohl mit seiner Wohnlage direkt an der Stadlerstrasse zusammen.

Ein Skaterpark muss her - die Bunkerdisco haben wir schon

Dann folgt ein junger Weiacher, der in der Gegend des Riemli oberhalb dem Bedmen wohnt, Gabriel B. (12):

«In Weiach ist wenig los. Mein jüngerer Bruder hat Unterschriften für einen Skaterpark gesammelt. Bald wird er genügend zusammenhaben. Denn wenn wir im Dorf skaten wollen, werden wir dauernd vertrieben und beschimpft, dass wir zu laut seien. Ich selbst werde zusammen mit vier Kollegen eine Disco auf die Beine stellen. Jeden zweiten Samstag wollen wir in einem privaten Bunker tanzen. Die Glitzerkugel haben wir schon, jetzt kann es losgehen. Ein CD-Laden oder ein Snowboard-Geschäft, das wäre schon toll. Immerhin gibt es hier einen Jugendtreff. In die Schule nach Stadel fahre ich mit einem Extrabus. Die Verbindung ist sehr gut. Und das Billet kriegen wir geschenkt. Ich habe gute Kollegen hier, darum wohne ich gerne in Weiach.»

Das Engagement ist beeindruckend. Ob Gabriel und sein Bruder allerdings mit ihrer Petition für einen eigenen Skaterpark durchdringen werden, ist fraglich. Denn beim Oberstufenschulhaus Neuwis-Hus in der Gemeinde Stadel gibt es so einen Skaterplatz bereits.

Der erwähnte Bunker wurde im Zweiten Weltkrieg für das Grenzfüsilierbataillon 269 erstellt. Er steht gleich oberhalb von Gabriels Elternhaus und gehört seit kurzem seinem Grossvater.

Zum Gratis-Abo für die Fahrten nach Stadel siehe den WeiachBlog-Artikel Harley-tramp-mein-Sohn für Weiacher Schüler vom 11. November 2006.

Was, wenn das Kies ausgeht?

Die Tagi-Reporter blieben vor Ort und interviewten gleich noch die Mutter des oben zitierten Zwölfjährigen, Theresa B. (38):

«Ich lebe seit 15 Jahren in Weiach. Was heute für viele Leute zählt, sind gute Verkehrsverbindungen, kein Nebel, ein grosses Freizeitangebot. Das alles kann Weiach nicht bieten. Doch es gefällt mir trotzdem hier. Ich habe meinen Mann in Weiach kennengelernt und bin von Amerika hierher gezogen. Wir führen zusammen das Restaurant «Wiesental» und sind daher an den Ort gebunden. In zehn Jahren wird Weiach überaltert sein. Deshalb braucht es mehr Angebote für die Jungen. Der tiefe Steuerfuss ist ein Vorteil. Doch wir haben ihn nur wegen des Kieswerks – wie lange noch? Das meiste Kies ist ausgeschöpft. Wenn die Steuern hochgehen, dann laufen noch mehr Leute weg.»

Viel deutlicher kann man es nicht ausdrücken. Theresa B. bringt das Kernproblem der Gemeinde auf den Punkt. Die Frage nämlich, welches Profil Weiach künftig haben soll, wenn die Steuererhöhungen nach dem Wegfall des Kiesgeldes unumgänglich werden. Wollen wir zum Industrie- und Gewerbestandort werden? Wo sind die entsprechenden Entwicklungs-Massnahmen? Und wenn die Reise in Richtung Naturpark (z.B. wie Bachs) gehen soll, dann müsste man sich für diese Richtung bewusst entscheiden. Momentan ist weder das eine noch das andere klar zu erkennen.

Note 1 ist Chabis

Als vierte und letzte Einwohnerin kommt eine Weiacherin zu Wort, die noch nicht zu den Alteingesessenen gehört:

«Isabelle d’Overschie (42): Hier gefällt es mir sehr gut. Die Note 1 im Regionenrating stimmt überhaupt nicht. Es ist richtig, dass wenige hierher ziehen. Wir wollen das ändern. Deshalb haben wir das «Forum von Weiach» gegründet. Unser Ziel ist es, dass hier wieder mehr Kinder leben. Sonst hat es in ein paar Jahren kleinere Klassen und weniger Lehrer. Wir werden beispielsweise einen Mittagstisch organisieren. Uns ist auch wichtig, dass der Volg und die Post erhalten bleiben und der öffentliche Verkehr verbessert wird. Dafür, dass wir ein kleines Dorf sind, ist das Schulniveau sehr gut.»

Da hat d'Overschie zweifellos recht. Es ist nicht nur so, dass wenige hinziehen. Per Saldo nimmt die Bevölkerungszahl nach einem Höchststand von 1014 Einwohnern (am 31. Dezember 2002) bereits wieder klar ab - und zwar durch Wegzug. Je schlechter das Infrastruktur-Gesamtpaket, desto unattraktiver wird das Dorf für Familien mit Kindern. Da vermag der tiefe Steuerfuss nicht wirklich Remedur schaffen.

In Neerach und Riedt hat man an einigen Lagen immerhin noch Fernsicht auf die Alpenkette, das zählt im Rating - und kompensiert, dass dort die Erreichbarkeit der Schulen im Tagi-Rating auch nur Note 2 erhält. Umso deutlicher sieht man, dass Note 1 für Weiach und Note 6 für Neerach aus dem Blickwinkel eines Immobilienmaklers zwar zutreffen mag. Nicht aber aus dem einer Familienfrau.

Quelle

  • Weiach: «Mehr Kinder wären gut». In: Tages-Anzeiger, 28. November 2006 – S. 61 Unterland.


Nachtrag vom 2. Mai 2011

Der zum Zeitpunkt der Publikation des TA-Artikels 12-jährige Gabriel B. hat mich heute gebeten, seinen Namen zu anonymisieren.

Ich komme diesem Ersuchen nach, da er zum Zeitpunkt des Interviews mit dem Tages-Anzeiger die Tragweite des "Für-immer-im-Internet-mit-Aussage-und-Namen-gespeichert-Seins" noch nicht erfassen konnte.

Um die Anonymisierung nicht gleich ad absurdum zu führen, sind in diesem Artikel auch der Name seiner Mutter sowie weitere Erwähnungen des Familiennamens B. zur Initiale umgebaut worden.

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