Samstag, 24. November 2007

Wer Bürger zu Kunden macht vernichtet die Demokratie

Rüdiger Suchsland ist ein streitbarer deutscher Zeitgenosse. Einer der - nomen est omen - tatsächlich auf der Suche nach seinem Land ist.

Als Journalist tut er das mittels pointierten Beiträgen wie vor einem Jahr mit «Nichts wie weg! Reform Impossible: 75 Gründe aus Deutschland auszuwandern. Und zwar jetzt gleich.» (Telepolis, 09.11.2006) oder kürzlich mit «Die Industrialisierung des Denkens. Über den Verfall politisch-kultureller Information». (ebenfalls auf Telepolis, bibliographische Angaben s. unter Quellen)

Da gibt es ein paar sehr lesenswerte Passagen, so zum Beispiel das einleitende Zitat Alexander Kluges: wenn die Öffentlichkeit verlorengehe, dann gehe «die Formenwelt für das Nachdenken ebenfalls verloren». Das muss zu denken geben.

In Suchslands Artikel geht es zwar um Massenmedien wie das Fernsehen. Die Problematik der verschwindenden Öffentlichkeit lässt sich aber genauso gut an kleinen Gemeinwesen wie der Gemeinde Weiach zeigen.

Wie geht die Öffentlichkeit verloren?

Sie geht dadurch verloren, dass der bis Mitte des 20. Jahrhunderts in unserer Gemeinde (aber auch sonst im Schweizerland) noch weitgehend gegebene Zusammenhang von Wohnsitz, wirtschaftlicher Lebensgrundlage und dem politischen Interesse am Wohlergehen dieser beiden Basiswerte praktisch vollständig verschwunden ist. Oder sich zumindest auf kümmerliche kaum noch mehrheitsfähige Reste reduziert hat.

Etliche, die in den letzten Jahren nach Weiach kamen (und heute immer noch kommen), lassen sich von Immobilienfirmen anlocken, die marktschreierisch mit dem Steuerfuss werben - und oft genug vor allem damit: «85%!» ist die beliebteste headline. Das ist denn leider oft auch das einzige Interesse, das solche Einwohner an ihrem neuen Standort haben. Sollte der Steuerfuss der politischen Gemeinde sich verdoppeln, z.B. von 18 auf 36%, so wäre Weiach zwar immer noch im Mittelfeld der Zürcher Gemeinden. Reine Steueroptimierer würden der Gemeinde dann aber wohl den Rücken kehren.

Die ehemals zwar auch segmentierte, aber doch auf sich selber reflektierte Dorfgemeinschaft zersplittert sich heute in gesellschaftliche Subkulturen, die sich nicht nur immer weniger zu sagen haben, sondern auch immer erbitterter ihre Partikulärinteressen durchzusetzen anschicken - und sei es mit dem Faustrecht. Das hat Folgen, wie einer der Schlusssätze von Suchsland zeigt:

«Paradoxerweise ist es nicht das Verschwinden von Pluralität, sondern gerade ihre Zunahme, der Zerfall der Gesellschaft in viele Gemeinschaften, in Szenen und Lebensstile, der die Krise des Öffentlichen befördert.»

Weiter diagnostiziert Suchsland «das Verschwinden einer gemeinsamen politischen Vision, eines politischen Willens.» Und er bringt die Essenz auf den Punkt: «Öffentlichkeit bedeutete ursprünglich die Fähigkeit, den gemeinsamen Willen der Civitas herzustellen und durchzusetzen. Das Verschwinden dieses Politischen, der Idee eines Staates als politischem Gemeinwesen (Polis), ist die eigentliche Krise der Öffentlichkeit. Und so verstandene Öffentlichkeit existiert nicht einfach, man muss sie schon herstellen. Und es sind die Bürger, die dem stattfindenden Enteignungs- und Verwertungsprozeß Widerstand entgegensetzen müssen.»

Worin besteht der Verwurstungsprozess?

Kurz gesagt besteht er darin, dass dem Einwohner (sei er nun Schweizerbürger, gar mit Ortsbürgerrecht ausgestattet, oder lediglich geduldeter Hintersasse, also Ausländer) der Eindruck vermittelt wird, er sei bloss Kunde und passiver Konsument. Und darin, dass er dies einfach so hinnimmt.

Verwaltungen sind - so die neue Lesart - eine Dienstleistung eines anonymen Staates an ebenso anonyme Konsumenten. Die früheren Bürger, die noch vor die Tür traten, um zu sehen was es gibt, die noch fast geschlossen die Gemeindeversammlung besuchten, weil da tatsächlich das verhandelt wurde, was ihre Lebenswelt direkt betraf, diese «Bürger» fühlen sich heute bestenfalls als Zuschauer und schlimmstenfalls als Konsumenten, die vom Staat via Steuerbescheid ausgenommen werden. Solcherart finden sie naturgemäss auch nichts dabei, diesen anonymen Staat abzuzocken, weil sie sich der Civitas eigentlich nicht mehr zugehörig fühlen.

Dass es so weit gekommen ist, hat nach Suchsland ganz wesentlich damit zu tun, dass Marketing und Verpackung heute wichtiger genommen werden, als die Vermittlung von Inhalten, deren tatsächlichen Zusammenhängen und die wirkliche Auseinandersetzung damit.

Suchsland geisselt den modernen Pseudojournalismus, der sich ranschmeisse, dabei alles so einfach wie möglich bringen wolle «und dann noch etwas einfacher.» Gekoppelt sei diese Ranschmeisse mit reinem Marketing:

«Der Zuschauer wird von den Informationssendungen des Fernsehens primär gut neoliberal als Kunde und nicht als Bürger begriffen. Auch als Kunde des Staates und der Politik - die dann wiederum Dienstleister sind. Die den westlichen Demokratien verfassungsrechtlich zugrunde liegende Auffassung des Zuschauers als Bürger, der sich Teilhabe am Staat sichert, Mitakteur und damit allerdings auch Verantwortungsträger ist, wird dagegen gedanklich systematisch ausgehebelt. Zuschauer sind handelnde Individuen nur noch dort, wo sie Konsumenten sind.»

Wie gibt man Gegensteuer?

Vereinigungen wie F.O.R.U.M, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Dorfgemeinschaft wiederaufleben zu lassen, sind lobenswerte Ansätze. Aber sie genügen bei weitem nicht.

Wenn diese neoliberale Seuche unaufhaltsam sein sollte, dann gibt es möglicherweise wirklich nur noch den Versuch, das System zu kurieren und seine Mängel zu beheben, indem man die Strategien erfolgreicher Konsumentenorganisationen und Umweltverbände studiert und die Konsumenten über das Lobbying wieder zu aktiven Bürgern macht.

Obwohl die globalen Wirkungszusammenhänge, welche die Hauptdeterminanten des heutigen Lebens sind, über die Ebene der Gemeinden herausragen und diese dazu wirklich nicht mehr viel beizutragen haben, ist nicht gleich die Gemeindeautonomie in Frage zu stellen. Aber konkrete Bestrebungen im Hinblick auf Regionalparlamente könnten wirklich ein notwendiger Schritt sein - und das durchaus auch über die Kantons- und Landesgrenzen hinaus.

Es braucht auf jeden Fall ein Umdenken auf allen Ebenen, nicht nur der des Staates. Entweder schaffen wir das - wenn nicht, ist das, was das christliche Abendland ausmacht, wirklich am Ende, jedenfalls in der Ausprägung als demokratische Staatengemeinschaft. Dann können eigentlich nur noch Diktaturen und/oder Bürgerkriege folgen. Die man dann vielleicht besser Kundenkriege nennen sollte.

Quelle

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